Warum spielen wir dieselben Spiele immer wieder? Und wie verändert sich das Spielen durch die Wiederholung? Die Reihe „Der Wert des Wiederspielens“ widmet sich persönlichen Erfahrungen mit dem Wiederspielen. In diesem Beitrag spricht die Psychologin Christiane Attig über Nostalgie, den Tod ihrer Mutter und warum sie Terranigma immer wieder spielt.
Irgendwo in Deutschland, Ende der 90er Jahre. Die Hochphase des Super Nintendo liegt hintzer uns; nicht mehr viele Spiele sollten für die legendäre Heimkonsole erscheinen. Die Playstation sowie das N64 beherrschen den Markt und werden die 16-Bit-Grafik zum Retro-Look machen. In einem Kinderzimmer, am Rande des Ruhrgebiets, wird das SNES jedoch viele weitere Jahre eine zentrale Rolle spielen. Ein Mädchen, gerade 12 Jahre alt geworden, wird nämlich immer wieder Terranigma (1996) spielen. Dieses Mädchen bin ich.
Rückkehr aus Nostalgie?
Terranigma, ebenso wie andere Spiele von Quintet (z.B. Illusion of Time, 1993), begleiten mich bis heute. Aber warum kehren wir zu manchen Spielen, Filmen, Alben und Büchern immer wieder zurück? Warum sind es so oft die Medien, mit denen wir uns während unserer Kindheit und den prägendsten Jahren unserer Pubertät beschäftigt haben? Nostalgie ist eine naheliegende Antwort. Nostalgie, die diffuse Sehnsucht zurück zu einer Zeit, in der vermeintlich Vieles besser war. Das Zurückerinnern an unwiederbringlich vergangene Momente, das Zurückversetzen in vor langer Zeit erlebte Emotionen, die durch wiederholtes Hervorholen fest in unseren Gehirnwindungen verdrahtet sind, aber dennoch immer wieder mit aktualisierten Erfahrungen neu getönt werden. Terranigma löst in mir genau dieses Gefühl der Nostalgie aus. Aber es ist nicht der einzige Grund, warum ich es immer wieder gespielt habe.
Meine Liebe für Videospiele begann nicht mit dem Super Nintendo, sondern mit dem Game Boy. Ich weiß nicht mehr, welches Weihnachten es war – es muss irgendwann Anfang der 90er gewesen sein. Ich bekam einen klassischen grauen Game Boy und dazu Kirby’s Dreamland und Super Mario Land geschenkt. Was sich auf diesem kleinen grünen Bildschirm abspielte, war fesselnd. Aber was ich nicht verstand: Unter dem Weihnachtsbaum befand sich ein noch viel größeres Paket. Und es war weder für mich noch für meine Schwestern vorgesehen. Nein, meine Eltern machten sich selbst ein Geschenk. Und zwar das Super Nintendo, dazu Super Mario World. Wir Kinder durften nur zuschauen, zum Selbstspielen hatten wir schließlich unsere Game Boys. Das Super Nintendo wurde für mich etwas für Erwachsene, etwas Verführerisches und verdammt Futuristisches.
Eskapismus
Besonders meine Mutter, die immer einen Hang zu exzessivem Spielen hatte – aus Gründen, wie mir später bewusst wurde – nutzte die Konsole nächtelang. So sammelten sich immer mehr Spiele an, später dann auch besagte Titel aus dem Hause Quintet. Ich schaute fasziniert zu, wie meine Eltern die Heldenrolle übernahmen, Welten erschufen und mehrmals der Apokalypse beiwohnten.
Ab und zu durfte ich über die Jahre hinweg selbst ans SNES und legte eigene Spielstände an. Das wurde häufiger, als es meiner Mutter gesundheitlich immer schlechter ging. Krebs, Bestrahlungen, Chemotherapie, Metastasen… Ich verstand nicht viel davon, aber dass wir sie nicht mehr lange bei uns haben würden, schon. Im Jahr 1998, ich war 12, starb sie. SNES-Spiele waren nicht mehr nur verführerische Unterhaltung, sondern Eskapismus. Terranigma habe ich aber längere Zeit nicht angerührt. Nicht aus Desinteresse. Sondern weil ich wusste, dass es dort Speicherstände von nie beendeten Durchgängen meiner Mutter gab. Eine schmerzliche Erinnerung, der ich mich nicht stellen wollte.
Irgendwann legte ich, mit spürbarem Kloß im Hals, das Spiel schließlich ein. Ich hatte immerhin auch positive Erinnerungen an Terranigma und wollte es endlich selbst erleben. Ich wusste damals noch nicht, dass es der erste von vielen Durchläufen sein sollte. Die Spielstände überspeicherte ich nicht, denn es gab noch einen freien Slot. Und los ging es mit dem Spiel, das in der kontraintuitiv ziemlich hellen und friedfertigen Unterwelt beginnt.
Der erste Neuanfang
Worum geht es in Terranigma eigentlich? Wir schlüpfen in die Rolle von Ark, der in dem kleinen Ort Krysta im Haus des Dorfältesten wohnt, da seine Eltern verschwunden sind. Er verbringt seine Tage meistens mit seiner Freundin Melina oder seinen Freunden, mit denen er Streiche ausheckt. In Krysta ist nicht viel los, aber eine geheimnisvolle verschlossene blaue Tür weckt das Interesse seiner Freunde.
Als der Dorfälteste eines Tages nicht anwesend ist, zerstört Ark die Tür und stößt im sich dahinter befindlichen Keller auf eine geheimnisvolle Truhe. Im jugendlichen Leichtsinn bricht Ark ihr Siegel. Das sorgt nicht nur dafür, dass ein merkwürdiges Wesen, das sich selbst Fluffy nennt, aus der Truhe befreit wird, sondern auch, dass alle Einwohner Krystas zu Eis erstarren. Zum Glück hat der Dorfälteste eine Lösung parat: Ark muss sich in den fünf Türmen der Unterwelt verschiedenen Prüfungen stellen, um Krystas Einwohner zu retten. Außerdem soll Ark durch ein unheimliches Portal in die Oberwelt reisen und dort Leben erschaffen.
Ja, richtig gelesen: Leben erschaffen. Die Oberwelt, die der uns bekannten Erde zumindest im Groben ähnlich sieht, ist zu Beginn von Arks Heldenreise eine tote Welt. Mit jedem erledigten Endgegner befreit Ark einen Bereich des Lebendigen: zuerst die Flora, dann die Vogelwelt, die Säugetiere und schließlich die Menschen. Mit Beginn der Besiedelung der Welt durch die Menschen nimmt das Spiel Züge einer Wirtschaftssimulation an, denn Ark kann durch seine Handlungen und Entscheidungen die Entwicklung der Zivilisation mitbestimmen. Aber das Erwachen der Menschheit hat auch Schattenseiten: Der Fortschritt beraubt Ark der Fähigkeit, die Pflanzen und Tiere zu verstehen. Das kapitalistische System bringt Wohlstand, aber auch Sinnentleertheit. Ein religiöser Kult um den mysteriösen Forscher Beruga entsteht. Ark muss das alles mit ansehen, begegnet selbst dem Tod, wird wiedergeboren und muss sich noch finstereren Mächten stellen.
Es sind also die richtigen Klopper, die in diesem Spiel thematisiert werden.
Live. Die. Repeat.
Terranigma erzählt eine Geschichte von der Schöpfung und vom Niedergang der Welt. Es werden zu Tränen rührende moralische Dilemmata aufgemacht (Widder, muss ich mehr sagen?). Gut und Böse verschwimmen immer wieder, mehr noch: Das Eine kann ohne das Andere nicht existieren. Leben heißt Dualität, Widersprüche aushalten und akzeptieren. Konfrontiert wird man damit bereits zu Beginn in der Unterwelt. Ein wunderschönes, idyllisches Dorf mit friedlich zusammenlebenden Menschen inmitten einer kargen Welt aus Eiswüste und Lava? Das Spiel ist durchzogen von philosophischen Ideen des Dào, aber auch Ideen aus dem Shintō, Buddhismus und Christentum lassen sich ausmachen.
Das klingt sophisticated, dennoch sind die philosophischen Anleihen auch für von der westlichen Kultur geprägte Menschen zugänglich und durch den emotionalen Ansatz intuitiv nachvollziehbar. So ist beispielsweise die Erschaffung der Menschheit ein Ereignis, das vom Spiel antizipiert wird. Schließlich leben die Bewohner von Krysta im Einklang mit der Natur und ohne kriegerische Auseinandersetzungen. Doch als die Menschen auf der Oberwelt auftauchen, wird dies nicht – wie bei der Erschaffung von Flora und Fauna – von hoffnungsvoller, positiver musikalischer Untermalung begleitet, sondern vom Unheil ankündigenden, choralartigen „The Humans Arrive“. Es wird deutlich, dass Ark, so sehr er auch für die Erschaffung des Lebens verantwortlich ist, stellvertretend auch dessen Untergang anstößt.
Die philosophischen und spirituellen Ideen werden verpackt in eine zeitlose, detailreiche 16-Bit-Grafik und einen herausragend guten Soundtrack. Terranigma hat zum Ende der SNES-Ära noch einmal gezeigt, was die Konsole sowohl grafisch als auch soundtechnisch kann. Von der verträumten Akustikgitarre in „Hometown“ bis zu den Synthie-Sounds von „Laboratory“ in Berugas futuristischer Arbeitsstätte bietet der Soundtrack ebenso viel Abwechslungsreichtum wie das Spiel. So wie wir eine Reise durch Raum und Zeit machen, reist die Musik durch alle Arten von Stimmungen und Instrumentierung, sofern man das von dem synthetischen Sound behaupten kann.
Loslassen
Und dann ist da noch das Ende. Tod und Wiedergeburt auf den Punkt gebracht, während die Credits über den Bildschirm rollen. Das Gefühl von Frieden, erfüllter Bestimmung und immer wiederkehrender Hoffnung. Es fällt mir schwer, all das zu schreiben, sind doch meine Augen mit Tränen gefüllt, wenn ich an die letzten Textzeilen denke. Ja, Terranigma bedeutet mir viel. Diese Gefühle mit einem Wort, Nostalgie, zu beschreiben, kommt dem nicht ansatzweise nah. Terranigma ist für immer mit den schönen Erinnerungen an meine Kindheit und meine Mutter assoziiert. Es zu spielen, ist eine Möglichkeit, mich mit ihr verbunden zu fühlen. Und Terranigma war eines der ersten Spiele, das mir universelle philosophische Gedanken vermittelte und mir zeigte, dass Games mehr sind als Geschicklichkeit in Jump’n’Run-Spielen auf die Probe zu stellen. Games können so viel mehr und im besten Fall begleiten sie uns über Jahrzehnte.
Die Spielstände meiner Mutter habe ich irgendwann bewusst gelöscht. Weil Weiterentwickeln auch Loslassen heißt. Eine der vielen Lehren, die in Terranigma steckt.
[…] ersten Spielstand sitzen wie ein Drache auf seinem Goldschatz. Ich war zufrieden, nachdem ich Terranigma auf dem Super Nintendo durchgespielt hatte und verspürte überhaupt keinen Drang, dasselbe noch einmal zu tun. Selbst Spiele, die nach […]