Warum spielen wir dieselben Spiele immer wieder? Und wie verändert sich das Spielen durch die Wiederholung? Die Reihe „Der Wert des Wiederspielens“ widmet sich persönlichen Erfahrungen mit dem Wiederspielen. In diesem Beitrag entdeckt Hanns Christian Schmidt (Uni Köln) das Motiv eines nostalgischen Traums in Secret of Evermore – und in seinem eigenen Wiederspielen.
Als ich ohnmächtig am Strand angeschwemmt werde, finde ich mich in einer unbekannten Umgebung wieder. Mein Hund, mein treuer Begleiter durch diese merkwürdige Welt, ist verschwunden. Was ich höre: Das Krächzen einiger Möwen, das sanfte Geräusch des Windes und das gleichmäßige Rauschen von Wellen. Aber da ist noch mehr: Ich vernehme das Schlagen entfernter Trommeln, über die sich bald der verspielte Klang einer Querflöte legt. Assoziationen an alte Piratengeschichten werden wach. Ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Aber ich weiß, dass ein neues Abenteuer auf mich wartet. Ein großartiges Gefühl.
Diese Passage spielt sich zu Beginn des zweiten Akts des Action-Adventures Secret of Evermore (Square USA / Squaresoft) ab, das in Deutschland 1996 für das Super Nintendo Entertainment System erschienen ist. Sie ist charakteristisch für ein ganz bestimmtes Gefühl, das ich an dieser Stelle als den „nostalgischen Traum eines vergangenen Abenteuers“ bezeichnen möchte. Das klingt zweifellos recht blumig, wenn nicht sogar schwülstig oder kitschig – aber es scheint gut zu passen.
Das liegt zum einen daran, dass das Traum-Motiv bei Secret of Evermore eine enorm wichtige Rolle spielt. Und zum anderen ist genau dieses Gefühl kennzeichnend für etwas, das den Wert des Wiederspielens von älteren Spielen auf ganz entscheidende Weise ausmacht. Gleichzeitig stellt das Traum-Motiv einen integralen Bestandteil im akademischen Diskurs um Nostalgie dar. „Nostalgie“ – das bezeichnet ursprünglich eine Form von „Heimwehe“, die sich aus den Worten „algia“ (Schmerz) und „nostos“ (Heimkehr) zusammensetzt (vgl. Boym, 2001, XV-XVI). Das Phänomen wurde das erste Mal vom Schweizer Armeearzt Johannes Hofer beschrieben, der angeblich Zeuge wurde, wie ein bestimmtes Hirtenlied auf seine Soldaten bei der Überquerung der Alpen eine derartige Melancholie auslöste, dass es schließlich verboten wurde. Ganz so dramatisch fiel meine eigene Rückkehr in die virtuelle Welt von Evemore nicht aus. Aber Nostalgie ist trotzdem der wesentliche Grund dafür, warum es mich immer wieder dorthin zurückzog.
Zurück in die Vergangenheit
Als ich den oben beschriebenen Abschnitt das erste Mal spielte, war ich zehn Jahre alt und geradezu ausgedurstet nach Spielen, die mich fremde Welten erkunden und rätselhafte Geschichten erleben ließen. Secret of Evermore versprach, genau diesen Wunsch zu erfüllen. Hergestellt von Square – und das einzige Action-RPG von Square, das in den USA entwickelt wurde – recycelt Secret of Evermore viele strukturelle Merkmale, die wir bereits von seinem erfolgreichen Verwandten Secret of Mana (Square, 1993) kennen. Es handelt sich um ein Action-RPG, das aus der Vogelperspektive gesteuert wird. Wir streifen durch fremde Welten, sprechen mit NPCs, leveln Fähigkeiten und Waffen auf, lösen Rätsel in Dungeons und lernen Zaubersprüche. Und natürlich kommen wir nebenbei einem ganz großen Geheimnis auf die Spur.
Dabei übernehmen wir die Figur eines Jungen mit blauen Jeans und roter Weste – Zurück in die Zukunft (Zemeckis, 1985) lässt grüßen. Genau wie der zeitreisende Marty McFly, der sich in der berühmten Spielfilmtrilogie selbst auf einem Nostalgietrip in die amerikanische Kultur der 1950er Jahre begibt, ist unser Held nicht nur ein popkulturell versierter Jugendlicher, der die Geschehnisse um sich herum mit Zitaten aus (fiktiven) B-Movies kommentiert. Er wird außerdem durch eine unheimliche Begegnung aus seinem gewohnten Umfeld gerissen und in fremdartige Welten transportiert, die an vergangene Epochen erinnern – eine klassische Heldenreise, die so vielen Geschichten zugrunde liegt. Die Besonderheit dabei: Es handelt sich bei diesen Orten keineswegs um Settings, die auch nur versuchen, eine historische Realität abzubilden. Das Land, das wir bereisen, entstammt stattdessen vollständig der Imagination.
Von der Gestaltung her ist Secret of Mana unmissverständlich das Vorbild von Secret of Evermore. Doch nach dem Einlegen des Moduls in die Spielekonsole wird klar, dass es sich hier um keinen direkten Nachfolger handelt. Es ist viel eher sein entfernter Cousin aus Amerika. Statt in einem quietschbunten Fantasy-Dorf, in dessen Nähe sich lustige Pilze, Gnome und „Pogopuschel“ tummeln, starten wir in den späten Abendstunden einer westlichen Großstadt. In einem Kino, um genau zu sein – also der Wirkungsstätte der Traumfabrik Hollywood schlechthin. Evermore und Mana unterscheiden sich aber auch in ihrer Atmosphäre. Die ist bei Evermore nicht nur um einiges düsterer (Gerüchte um den Einfluss eines angeblich nie existiert habenden Horrorautors halten sich hartnäckig), sondern auch wahnsinnig dicht.
Das liegt vor allem an einem der schönsten Soundtracks der 16bit-Ära, der vom damals erst 19-jährigen Jeremy Soule[1] stammt, welcher später unter anderem für die Elder Scrolls-Reihe komponierte. Soule liefert hier seine erste Arbeit ab und mischt Ambient-Sounds (etwa das oben beschriebene Wellenrauschen und das Geräusch der Möwen) mit dezenten orchestralen Klängen und ungewöhnlichen Instrumenten – eine echte Neuheit für die Konsolenspiele dieser Generation.
Träume von alten Wirklichkeiten
Im Spiel ist Evemore ein Traumland, das den Fantasien und Wünschen eines kleinen, befreundeten Zirkels von Wissenschaftler*innen entsprungen ist. Diese utopische Fantasiewelt wurde von einer gewaltigen Maschine erschaffen, die von einem seltsamen Erfinder konstruiert wurde. Was wir hier erleben, ist also Worldbuilding par Excellence; poiêsis im aristotelischen Sinne – die Erschaffung möglicher Welten. Auf diese Weise ist die Welt von Evermore eine besonders gute Projektionsfläche für nostalgische Gefühle. Damit ist auch gleich zu Beginn ein selbstreflexives Moment in die Geschichte eingebaut, das es sich mit anderen Adventure-Games dieser Ära teilt – so etwa The Legend of Zelda: Link’s Awakening (Nintendo 1993, Remake 2019), das auf der Trauminsel Cocolint spielt, oder auch dem legendären Point & Click-Adventure Myst (Cyan Worlds/Brøderbund, 1993), in dem wir zu Beginn in ein Buch fallen.
Früher, als ich noch mehr Zeit hatte, verging wohl kaum ein Jahr, in dem ich Evermore keinen Besuch abstattete. Daran, dass Secret of Evermore ein exzellentes Spiel ist, lag das aber keineswegs. Hier trifft ein unausgegorenes Kampfsystemauf nervtötende Grind-Passagen,die nur dazu dienen, unsere Waffen und alchemistischen Fähigkeiten aufzuleveln. Die teilweise unnötig labyrinthischen Dungeons sind von unlogischen Puzzles gespickt und viele Bosskämpfe sind so unfair, dass ich gern meinen Controller an die Wand gedonnert hätte.
Was mich damals antrieb, war eher eine Mischung aus Eskapismus und Sehnsucht nach Selbstwirksamkeit: Genau wie ähnliche Super-Nintendo-Spiele – etwa The Legend of Zelda: A Link to the Past (Nintendo, 1991) oder das bereits erwähnte Secret of Mana – die ihr narratives Potential aus der geradezu archetypischen Trias „ein Junge, ein Schwert, ein Abenteuer“ schöpften, teleportierte mich auch Secret of Evermore an einen Ort, in dem die eigene Handlung nicht von Erwachsenen kontrolliert, korrigiert und gegebenenfalls sanktioniert wurde. Stattdessen ließen mich diese Spiele in einer bedeutungsvollen Geschichte tatsächlich den entscheidenden Unterschied machen.
Narratives of being there
Dass Evermore dabei durch seine faszinierende Geschichte und seinem wunderbaren Soundtrack sehr viel atmosphärischer als die oben genannten Spiele war,sorgte dabei für einen besonderen Reiz des Wiederspielens. Diese Mischung aus der Möglichkeit des eigenen Handelns und der Eigentümlichkeit einer ganz spezifischen Storyworld hat der niederländische Medienwissenschaftler Teun Dubbelman auf die charakteristische Formel „narratives of being there“ gebracht: „games have made mainstream what other media have only marginally explored: the ability of media users to feel physically present in the stories and fictional worlds expressed. Computer games position the media user as a physically present participant, anchored to one location in space and time.” (2013, 227)
Bei meinen wiederholten Streifzügen durch Evermore ging es mir also keineswegs um die Qualität des Spiels an sich; und ich wollte mich auch nicht unbedingt zum unbesiegbaren Champion über die Spielmechaniken emporschwingen (siehe Ben Strobels Beitrag in dieser Reihe). Allerdings wäre es auch zu kurz gegriffen, zu behaupten,dass ich lediglich einen bestimmten, fiktiven Ort wiederbesuchen wollte, der in meiner Kindheit eine große Faszination auf mich ausgeübt hatte. Stattdessen wollte ich – auch noch Jahre später – das ganz bestimmte Gefühl wiederbeleben, das Evermore damals ursprünglich bei mir ausgelöst hatte. Wie der Ich-Erzähler im berühmtesten Roman des französischen Schriftstellers Marcel Proust, der verträumt sein Gebäck in eine Teetasse tunkt und sich dabei sentimental dahinschwelgend auf die„Suche nach der verlorenen Zeit“ begibt, grub ich mein SNES aus, nahm einen Controller aus Hartplastik zur Hand und pustete entschlossen ins Cartridge, um mich emotional in eine andere Zeit zu versetzen. Es war also immer auch ein zutiefst nostalgisches Unterfangen.
Mediennostalgie und der langsame Rhythmus unserer Träume
Diese Form der Sehnsucht ist auch heute typisch für viele kulturelle Bereiche, insbesondere in unserer Medienkultur. Das liegt unter anderem daran, dass es beim Konsum älterer Medien gerade auch die Umstände und Gefühle sind, die lebhaft miterinnert werden können. So schreibt etwa Andreas Böhn:
„Ein erheblicher Anteil unseres individuellen Gedächtnisses besteht aus Erinnerungen des kulturellenGedächtnisses, das Teil unserer Biographie geworden ist. Selbst Zeitpunkt, Ort undUmstände, unter denen Erinnerungen entstanden sind, können erinnert werden. Wann habenwir zum ersten Mal unseren Lieblingsfilm gesehen […] die Aufnahme eines bestimmten Musikstücks,das uns tief bewegt hat, gehört […]? Beide Beispiele zeigen, dass Medien mit den Umständenverbunden sind, unter denen wir Dinge im Gedächtnis speichern. Wenn Medien unsere Alltagswelt bis zu einem gewissen Grad konstruieren, so sind sie andererseits auch Teil unserer persönlichen Erinnerung. Durch ihre Veränderung und Entwicklung im Laufe der Zeit sind sie nicht mehr das, was sie zu einem früheren Zeitpunkt in unserem Leben waren“ (Böhn, 2010, 152-153).
Die Realisierung, dass eine Medienerfahrung unserer Kindheit nicht mehr dieselbe wie früher ist – also im Grunde immer der vergebliche Versuch einer unmöglichen Rückkehr darstellt– wird auch von der Nostalgie-Forscherin Svetlana Boym betont. In einer besonders prägnanten Formulierung, die ganz hervorragend zu meiner etwas schwülstig formulierten These zu Beginn passt, schreibt sie: „At first glance, nostalgia is a longing for a place, but actually it is a yearning for a different time – the time of childhood, the slower rhythms of our dreams.” (Boym 2001, XV).
Das Präsenzerleben eines virtuellen Ortes, das Gefühl einer „narrative of being there“, wird durch den Filter unsere Kindheitserinnerung maßgeblich gefärbt; unsere Erinnerung wird tatsächlich zu einem vergangenen Traum. Aus diesem Grund spricht auch Sebastian Felzmann in seinen Texten zur Computerspielnostalgie von einer „verweigerten Rückkehr“ (2010, 201), die sich zwar einerseits aus den Spielerfahrungen an sich (mit allen spezifischen, oft störanfälligen Besonderheiten der Hardware), aber vor allem auch an die soziale Eingebundenheit eines ganz bestimmten Zeitraums niederschlägt. (201)
„Chewie, we’re home.“
Ein besonders gelungenes Beispiel für eine solche mediennostalgische Heimwehe ist diese Szene aus Star Wars: The Force Awakens (J.J. Abrams 2015), in der der charismatische Schmuggler Han Solo und sein pelziger Freund Chewbacca als gealterte Veteranen ihr Schiff aus der Vergangenheit wiederbetreten:
Für eingefleischte Star-Wars-Fans ist das ein geradezu ekstatischer Moment, der, wie zahlreiche Reaction-Videos zeigen, von gerührten Kinogängern regelrecht zelebriert wird. Die vermeintliche Rückkehr ist jedoch keine. Genau wie Han und Chewie einige Momente später feststellen, dass der Millenium Falcon nicht mehr ihnen gehört, so stellen auch wir als Zuschauer*innen fest, dass die Reise längst mit neuen Protagonist*innen weitergegangen ist. Die neue Trilogie ist nicht dieselbe Trilogie, die wir in unserer Kindheit gesehen haben, sie kann es auch nicht sein – und es ist äußerst bezeichnend für den aktuellen Nostalgie-Diskurs, dass ein großer Teil des gespaltenen Star-Wars-Fandoms gekränkt und aggressiv auf den zweiten Teil der Trilogie reagiert, der partout nicht die eigenen Erwartungshaltungen erfüllen möchte.
Genau wie die alten Star-Wars-Filme stellen auch alte Computerspiele wie Secret of Evermore Zeitkapseln dar. Sie nutzen überlieferte Allgemeinplätze, bereits etablierte Strukturen und referentielle Abstoßpunkte aus anderen Medien – transmediale Topoi – um für uns Welten zu erschaffen, in die wir tatsächlich zurückkehren können. Jedoch hat sich dabei etwas Entscheidendes verändert. Sie rufen nicht exakt dieselben Gefühle wie früher in uns wach, aber eine wirkungsvolle Erinnerung an diese Gefühle. Und das ist das Geheimnis von Evermore: Es besteht darin, dass es ein Un-Ort ist, eine Utopie aus unseren Träumen und Wünschen. Dabei spiegelt dieses Geheimnis auf eigentümliche Weise unser Bedürfnis danach wieder, sich in eine vergangene Zeit zurückzuversetzen, die von unseren Kindheitserinnerungen und Träumen nach Abenteuern verklärt ist. Darin liegt auch heute noch ein besonderer Reiz des Spiels. Es ist „a yearning for a different time – the time of childhood, the slower rhythms of ours dreams.“ (Boym, 2001, XV).
P.S.: Ein weiteres Spiel, das den „Traum eines vergangenen Abenteuers“ ganz besonders gut eingefangen hat, ist meiner Meinung nach der Titel Uncharted 4 (2016, Naughty Dog/Sony) für die Playstation 4. In diesem Spiel existiert ein Epilog, mit dem wir mit der Tochter des Protagonisten auf einige Artefakte stoßen, die unser Spielheld in den vergangenen Spielen erbeutet hat. Die Schätze sind zwar nur in Bruchstücken vorhanden, die Geschichten dazu jedoch so gut (und emotioal) im Gedächtnis des Protagonisten erhalten, dass sie lebhaft weitererzählt werden können. Und das ist nicht nur ein wunderbares Stück Storytelling, das uns den nostalgischen Zauber eines vergangenen Abenteuers noch einmal vor Augen führt. Es ist außerdem eine gelungene Reminiszenz an ein mittlerweile veraltetes anderes Game des selben Herstellers:
[1] An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass die Jeremy Soule bei all‘ seinem Talent als Person nicht unkritisch gesehen werden sollte. Soule war im Zuge der #metoo-Bewegung einer der ersten Beschuldigten aus der Games Branche: https://kotaku.com/two-women-accuse-skyrim-composer-jeremy-soule-of-sexual-1837677315
Literatur
Boym, S. (2001), The Future of Nostalgia. New York: Basic Books.
Böhn, A. (2010). Mediennostalgie als Techniknostalgie. In Andreas Böhn & Kurt Möser (Hrsg.), Techniknostalgie und Retrotechnologie (S.149–165). Karlsruhe: KIT Scientific Publishing,
Dubbelman, T. (2013). Narratives of Being There: Computer Games, Presence and Fictional Worlds. (Phd-Thesis). Verfügbar unter: https://www.researchgate.net/publication/310972886_Narratives_of_Being_There_Computer_Games_Presence_and_Fictional_Worlds, Zuletzt abgerufen am 14.08.2020.
Felzmann, S. (2010). Playing Yesterday. Mediennostalgie und Videospiele. In: Andreas Böhn & Kurt Möser (Hrsg.), Techniknostalgie und Retrotechnologie (S. 197-215). Karlsruhe: KIT Scientific Publishing.
[…] sich recht deutlich die Gründe für einen zweiten Spieldurchlauf: Zum einen war (und ist) der nostalgische Versuch, eine verklärte Kindheit wieder zu erwecken, schließlich zum Scheitern verurteilt. Es macht […]