Was wäre, wenn wir unsere Zukunft kannten oder das Geäst aller möglichen Zukünfte sehen und verstehen könnten? Wenn unser Geist mehr ist, sind wir dann weniger Mensch? Gastautor Pascal Wagner unternimmt eine Reise durch den mentalen Transhumanismus im digitalen Spiel. Dieser Beitrag ist zuerst in GAIN Ausgabe #7 erschienen.

Transhumanismus – wenn wir gemeinhin daran denken “mehr als ein Mensch” zu sein, so fallen uns unweigerlich zuerst die körperlichen Modifikationen eines Cyborg aus dem DC Comic-Universum oder die Augmentierungen der Deus Ex-Welt ein. Vehementere Verfechter kontemporärer transhumanistischer Bewegungen mögen gar schon Brillen und Schuhe als Ausdruck von Cyborgismus nennen, so wie Donna Haraway sie in ihrem feministischen A Cyborg Manifesto als Beispiel für die stetige Augmentierung des Menschen über seine Entwicklungsgeschichte hinweg aufführt.

Titelbild: Silver Spook Games [Neufeud]

Hätte Haraway ihren Aufsatz dabei nicht 1984, sondern heute geschrieben, sie hätte sich wohl unweigerlich auch auf das Internet in der Hosentasche bezogen. Die ständige Möglichkeit zum Informationsaustausch augmentiert zwar nicht unsere Körper, verändert aber doch unsere Denkstrukturen. Erforschtermaßen kann etwa der unbegrenzte Zugriff auf in Echtzeit berechnete Routenplanung unsere Bereitwilligkeit beeinflussen, mentale Karten zu bilden und im Gedächtnis zu behalten. Was Verschwörungsideolog:innen von Horrorszenarien der Hirndegeneration und griffigen Unsinnswörtern wie ‘digitaler Demenz’ sprechen lässt, ist dabei nichts weiter als eine effiziente Anpassung unser mentalen Arbeitslast. Doch angenommen, wir beschränken die Möglichkeiten unseres Gehirns nicht nur auf die ‘Augmentierung’ des Hier und Jetzt mithilfe von globaler Kommunikation und Navigation? Was, wenn wir sie mit ähnlich fantasievollen Science Fiction-Auswüchsen wie Adam Jensens Cyberaugen in Deus Ex ergänzen? Tatsächlich werden wir dabei in den Wissenschaften wie auch in der Kunstform Videospiel fündig. Begeben wir uns also auf die Suche nach dem mentalen Transhumanismus im digitalen Spiel.

Zero Escape | Bild: Spike Chunsoft / Aksys Games
In fünf von sechs Zukünften wird Sigma das Betätigen des Abzugs nicht überleben… | Bild: Spike Chunsoft / Aksys Games [Zero Escape]
Zurück in die Zukünfte

Was heißt es, die Zukunft zu kennen, wenn diese von zahlreichen noch nicht getroffenen Entscheidungen und bereits entschiedenen Faktoren abhängt? An welchem Punkt spaltet sich eine mögliche Zukunft von der ab, die wir selbst erfahren werden? Mit nur wenig Denkaufwand kann man die Zeit als einen sich verästelnden Baum zeichnen, der mit jeder getroffenen Entscheidung eine weitere Verzweigung dazu bekommt. Es ist also nicht verwunderlich, wenn sich Menschen die Frage stellen, ob die anderen Zweige nicht ebenfalls real sein könnten. Die Entstehung einer Viele-Welten-Theorie, die sich nicht räumlich, sondern zeitlich von unseren Vergangenheiten und Zukünften unterscheidet, liegt da nicht weit entfernt. Und motiviert von der gerade durch Schrödingers berühmte Katze populär gewordenen Eigenheit von Quanten, im unbeobachteten Zustand sowohl hier als auch dort zu sein, hat auch die Popkultur einen starken Einfluss auf die Vorstellung von Parallelwelten genommen.

Die schier unendlichen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, in andere Linien des Entscheidungsbaumes zu wechseln oder gar nur mit ihnen zu kommunizieren, sind so überwältigend wie faszinierend. Und das auch ohne die Möglichkeit ‘echter’ Zeitreisen mit einzubeziehen, um die Ergebnisse der Sportwetten der nächsten 30 Jahre vorauszusehen. Der argentinische Essayist Jorge Luis Borges hat mit seiner Kurzgeschichte The Garden of Forking Paths (dt. Der Garten der Pfade, die sich verzweigen) wohl die bis heute bekannteste Interpretation einer Viele-Welten-Theorie zu Papier gebracht, auf der nicht wenige der später in diesem Artikel genannten Spiele aufbauen. Der Garten der Pfade handelt von einem preußischen Spion chinesischer Abstammung im ersten Weltkrieg, der mit Hilfe eines zyklisch angelegten Buches ohne Anfang und Ende beginnt, in allen möglichen Zukünften zu denken. Aus der Erkenntnis heraus, in einer davon könne sein Freund Albert sein Feind sein, erschießt er ihn. Daraufhin erlebt er tatsächlich jene Zukunft, in der Albert ein britischer Gegenspion ist, der das Buch erfroscht, und dass das Erschießen Alberts dem Deutschen Reich einen entscheidenden Vorteil bringt.

Neufeud | Bild: Silver Spook Games
Borges‘ Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, wie er in Neofeud dargestellt wird. | Bild: Silver Spook Games [Neufeud]
In dieser Zukunft ist das Rätsel gelöst

Neben der für viele Menschen wie pure Fantasy anmutenden Quantenmechanik haben zahlreiche pseudowissenschaftliche Theorien wie etwa die des ‘morphogenetischen Feldes’ von Rupert Sheldrake die Fantasie von Autoren beflügelt. Die Annahme, Organismen könnten über eine unentdeckte Wellenart telepathisch miteinander kommunizieren und so unterbewusst Informationen austauschen, ist zwar haltlos, für Science Fiction-Szenarien aber ein gefundenes Fressen. Nicht wenige Videospieler:innen werden den Namen Sheldrake daher zum ersten und vielleicht einzigen Mal in Nine Hours, Nine Persons, Nine Doors gehört haben, dem Auftakt der Zero Escape-Reihe von Kotaro Uchikoshi.

Die zu ähnlichen Teilen aus Visual Novel- und Escape Room-Elementen bestehende Spielereihe mit beträchtlichem Psychohorroranteil nutzt das Konzept des morphogenetischen Feldes, um ihre eigene Viele-Welten-Theorie zu eröffnen: Jede durch die Spieler:innen getroffene Entscheidung verästelt einen grafisch dargestellten Zeitlinienbaum weiter und weiter. Erst durch das Nutzen von Wissen aus einer Zeitlinie in einer eigentlich mit ihr inkompatiblen anderen können die Zero Escape-Spiele gelöst und verstanden werden. Dieses übertragene Wissen wird manchmal aktiv von den Spielfiguren durch die Multiversen geschickt, sodass ein Charakter plötzlich Wissen erlangt, das er eigentlich nicht haben sollte. Viel öfter jedoch dient der Spielende selbst als Trägermedium durch die einzelnen Zeitstränge. Dafür müssen schließlich Zifferncodes oder Passwörter handschriftlich notiert und an bestimmten anderen Punkten korrekt eingegeben werden, an denen die Figuren besagte Codes nie und nimmer hätten wissen können. Was die Charaktere der Zero Escape-Spiele augmentiert, das sind daher nicht ihre Körper, sondern ihr Geist. Und die handelnde Prothese ist nicht nur in der Narration mit der Existenz eines telepathischen Felds erklärt, sondern auch ludisch durch die Spielzüge des Spielenden eingebunden.

Zero Escape | Bild: Spike Chunsoft / Aksys Games
Die Viele-Welten-Theorie in Zero Time Dilemma, als sich verästelnder Baum dargestellt. | Bild: Spike Chunsoft / Aksys Games [Zero Escape]
Mehr als ein Bewusstsein, weniger als ein Mensch

Eine ganz ähnliche Integration einer Multiversen-Theorie liefert Neofeud, ein Point & Click-Adventure vom hawaiianischen Entwickler und Lehrer Christian Miller alias Silver Spook. In der postapokalyptischen Welt von Neofeud ist angewandter Transhumanismus Gang und Gäbe, insbesondere in den ärmeren Schichten der Bevölkerung. Tatsächlich thematisiert das Spiel gerade Themen wie Rassismus gegen die Opfer strahlungsbedingter Mutationen. Auch das notgedrungene Ersetzen von amputierten Körperteilen durch improvisierte Cyborgprothesen, die in der Welt von Neofeud von jedem Hinterhofbastler zusammengeschraubt werden können, sorgt für einen drastischen Abstieg in der sozialen Stellung.

Während in den schwebenden Städten der Elite ‘reinrassige’ Menschlichkeit in immer bizarreren Definitionen als das höchste Gut gilt, lassen dieselben Technokraten gleichzeitig in den Eingeweiden der Slums an der ihrer Meinung nach nächsten Evolutionsstufe der Menschheit forschen: der mentalen Erweiterung in andere potenzielle Zukünfte. Neofeud treibt diese klar an Der Garten der Pfade, die sich verzweigen angelehnte Definition des im Geiste fixierten Transhumanismus sehr weit. So weit, dass ein Genetiker, der sich selbst im Vermächtnis von Mengele sieht, eine das Gehirn amplifizierende Maschine namens The Garden erschafft, die exakt das erreicht. Eben jener im wahrsten Sinne des Stereotyps wahnsinnige Forscher bezieht sich dabei gleich auf doppelter Ebene auf Borges, indem er das Ernten von menschlichen Körpern zum Vorantreiben seiner Forschung mit dessen Gedicht El Golem vergleicht: Dem Erschaffen eines nützlichen Apparates aus einem zunächst wertlosem Ausgangsmaterial. Dort Lehm, hier Menschen. Die Erweiterung der mentalen Fähigkeiten über das Menschenmögliche hinaus kommt in Neofeud also keineswegs unkritisch davon. Im Gegenteil wird die Doppelmoral, mental mehr sein zu wollen als ein Mensch, andererseits jedoch physische Formen des Andersseins als weniger menschlich anzusehen, hier ganz deutlich herausgestellt.

Neufeud | Bild: Silver Spook Games
Zum Preis für den mentalen Transhumanismus in Neofeud gehört es auch, das eigene Fleisch bis auf Herz und Gehirn auszuschlachten. | Bild: Silver Spook Games [Neufeud]
Die eigene Identität – im fremden Geist

Kritik an einer Einordnung mentaler Zustände in bessere und schlechtere übt auch All Our Asias von Sean Han Tani. Das kostenlose, zweistündige Narrative Game in stilisierter PlayStation 1-Ästhetik handelt von den Selbstzweifeln eines japanischen Immigrantensohns in den USA., der die Muttersprache seiner Eltern nie gelernt hat. Als sein Vater im Sterben liegt, betritt der Protagonist mithilfe einer Maschine dessen Gedankenwelt. Dort konfrontiert er die Selbstzweifel, die er selbst im Konflikt seiner beiden Herkünfte auf den Vater projiziert hat. Die Erinnerungen des Vaters vermischen sich in dieser digitalen Projektion auf undurchdringliche – und unangenehme – Weise mit der Erfahrung des Sohnes. Dieser weiß schließlich nicht mehr, ob er mit den schwindenden Hirnwellen des Sterbenden oder einem von seinen eigenen Zweifeln erzeugten Fehler im System interagiert.

Die mit geringer Polygonzahl modellierte und minimal texturierte Spielwelt und der als klobiges kleines Raumschiff dargestellte Spielercharakter kommen dabei nicht von ungefähr. Sie dienen ähnlichen Zwecken wie in State of Mind. Die Realitäten der Persönlichkeiten beider Charaktere verschieben sich. Es bleibt gänzlich ungewiss, ob in der herunterfahrenden Simulation ein Teil der Identität des Vaters auf die des Sohnes einwirkt und diesen so einen Abschluss mit seiner Vergangenheit als Migrantenkind ermöglicht, oder ob im Gegenteil die Präsenz des Sohnes in den Hirnwellen des Kranken dessen letzte Wahrnehmungen so verzerrt, dass er als Schatten seiner selbst verstirbt. Ob jedoch eine der beiden Möglichkeiten überhaupt erstrebenswerter als die andere ist, das lässt das Programm offen. Am Ende bleibt nur die Gewissheit, dass sich die Wahrnehmung des Protagonisten durch das technisch erweiterte Erfahren der Gedankenwelt seines Vaters maßgeblich geändert hat.

All Our Asias | Bild: Melos Han-Tani / Analgesic Productions
Was heißt es, ‚Asiate‘ zu sein? All Our Asias Protagonist beginnt erst in der Simulation, darüber nachzudenken. | Bild: Melos Han-Tani / Analgesic Productions [All Our Asias]

Wie in den vorherigen Beispielen ist auch hier aus einer Person in gewissem Sinne mehr als eine geworden. Doch ergibt eine Aufteilung in zwei völlig zu unterscheidende Menschen durch den Einfluss der mentalen Erfahrung Sinn? Sind die Schlüsselcharaktere Phi und Sigma aus Zero Escape vor und eine nach dem Sprung durchs morphogenetische Feld andere Menschen? Ist Neofeuds Herrscherkaste nach der Allmachtserlangung durch das Wissen um alle möglichen Zukünfte verändert, oder nur die gleiche grausame Gruppe mit mächtigerem Spielzeug? Wenn All our Asias Protagonist nach der Gedankenerfahrung seines Vaters besser mit sich selbst umzugehen weiß, hat er dann eine Evolution hin zu jemand anderem durchlaufen oder einfach nur etwas Neues erlernt?

Wo wir die Grenze zwischen der Person, die wir in der einen versus derer, die wir in der anderen potenziellen Zukunft sind ziehen, bleibt uns überlassen. Für wie groß wir die Entscheidung empfinden, die den Zeitstrahl verästelt, ebenfalls. Die genannten Spiele wie auch Borges’ Geschichte zeichnen ihre kritischen Momente in groben, breiten, von Weitem erkennbaren Strichen. Das tun sie für unser Verständnis. Wollen wir uns aber ganz ohne Science Fiction und Esoterik selbst an den möglichen Folgen unserer Handlungen in der Zukunft messen, tut uns niemand den Gefallen, uns mit der Lupe auf den kritischen Moment hinzuweisen. Dafür bleibt uns nur unsere Selbsteinschätzung.

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