In Life is Strange: True Colors schlüpfen wir in die Rolle von Alex Chen – eine junge Frau mit besonderen Superkräften: Sie kann die Emotionen anderer Menschen sehen und in ihre Gefühlswelten eintauchen. Aber ist Empathie tatsächlich eine Superkraft oder sind wir alle dazu fähig, uns in andere einzufühlen? Wie können Games Gefühle vermitteln und wie gut gelingt das in Life is Strange?

Titelbild: Life is Strange: True Colors, Square-Enix / Deck Nine

Emotionen in Games

Emotionen sind das große Thema im neuen Life is Strange. Wir erleben sie jedoch überall beim Spielen – es geht gar nicht ohne. Wir freuen uns, wenn wir gewinnen und sind ganz aufgeregt, wenn wir nicht wissen, wie es ausgeht. Wir fiebern mit, wenn geliebten Figuren in einer Geschichte etwas zustößt. Das ist ein wichtiger Grund dafür, warum wir Games, und andere Medien, rezipieren. Weil sie etwas in uns auslösen und etwas in uns bewegen. Spiele, denen das nicht gelingt, legen wir schnell wieder weg.

Dazu bedienen sich Games verschiedener Techniken. Einige davon kennen wir aus anderen Medien: stimmungsvolle Bilder und Musik, lustige oder tragische Erzählmomente und natürlich die Gefühle der Figuren, die durch ihre Gedanken und Regungen zum Ausdruck kommen. Jedoch kommen wir in kaum einem anderen Medium einer Figur so nah wie im digitalen Spiel. Wenn Mario in einen Abgrund fällt, sagen wir nicht ‚Mario ist gefallen!’, sondern ‘Oh nein, ich bin tot’. In Games können wir die Handlung unserer Spielfigur lenken und das Geschehen selbst beeinflussen. Das empfinden wir nicht nur als motivierend und belohnend. Wir sind dadurch auch besonders involviert in die Geschichte und emotional besonders investiert in unsere Figur. Wenn ihr dann etwas zustößt, gehen wir auch besonders mit.

In True Colors gelingt das besonders gut, weil wir in die Gefühle der Figuren tiefere Einsicht bekommen. Manchmal können wir Gedanken hören, manchmal sehen wir die Welt sprichwörtlich durch ihre Augen – mit all den emotionalen Ladungen und subjektiven Verzerrungen, die damit einhergehen.

In Life is Strange zeigen die Figuren eine große Bandbreite von Gefühlen | Bild: Life is Strange: True Colors, Square-Enix / Deck Nine
In Life is Strange erleben wir eine große Bandbreite von Gefühlen | Bild: Life is Strange: True Colors, Square-Enix / Deck Nine
Eine Superkraft, die wir alle haben

Die Hauptfigur Alex Chen kann die Gefühlswelten anderer Figuren wahrnehmen und in sie eintauchen – Empathie, inszeniert als Superkraft.

Aber: Empathie ist eine Superkraft, die wie alle haben. Menschen sind mit dieser Befähigung von Geburt an ausgestattet, auch wenn sie über die Lebenszeit noch weiter ausdifferenziert werden muss. Wir sind so etwas wie ein Staubsauger für Emotionen: Wenn andere lachen, dann lachen wir mit und wenn es jemandem nicht gut geht, haben wir auch einen Kloß im Hals. Bei traurigen Filmen müssen wir weinen und bei Horrorspielen fürchten wir uns. Wir sind immer dann besonders empathisch, wenn wir die anderen als ähnlich zu uns erleben. Leider führt das zu weniger Empathie bei Menschen, die wir als unähnlich zu uns selbst empfinden. Hier müssen wir aktiv üben, uns in sie einzufühlen und ihre Perspektive zu übernehmen.

Allerdings hat Empathie auch ihre Grenzen: sie kann auf Dauer sehr anstrengend sein – das sieht man auch in True Colors. Der Autor und Journalist Rutger Bregman schlägt deshalb vor, dass wir auch üben sollten, eigene Gefühle für andere zu empfinden anstatt nur ihre Emotionen nachzuempfinden. Auch das finden wir in True Colors wieder.

In andere einfühlen: EMpathie als Superkraft | Bild: Life is Strange: True Colors, Square-Enix / Deck Nine
In andere einfühlen: Empathie als Superkraft | Bild: Life is Strange: True Colors, Square-Enix / Deck Nine
Wenn die Gefühle überlaufen

Auch Alex wird im Spielverlauf immer wieder von Gefühlen überweltigt, die sich von anderen Figuren auf sie übertragen. True Colors zeigt dabei einige funktionale Strategien, wie man mit den eigenen Gefühlen umgehen kann. Beispielsweise führt Alex ein Tagebuch, in dem sie emotionale Momente dokumentiert. Im Spiel dient das auch als Rekapitulation der Ereignisse, in der Realität kann es helfen, die eigenen Gefühle zu ordnen. Zudem gibt es immer wieder Momente im Spiel, in denen Alex sich Zeit nehmen kann, um über Ereignisse zu reflektieren. Ihre Gedanken sind dabei zumeist auf die Zukunft ausgerichtet – ebenfalls eine funktionale Strategie, die auch in der Psychotherapie oft empfohlen wird.

Ein anderes Beispiel ist der Ausdruck von Gefühlen durch kreative Tätigkeiten. Alex drückt ihre Gefühle durch Song-Writing und Musizieren aus. Auch diese Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen kann dazu beitragen, sie besser zu verarbeiten, beispielsweise wenn es um Trauer geht.

Leider wird man in True Colors auch aufgefordert, die eigene Empathie dazu einzusetzen, die Gefühle anderer zu manipulieren. Das geschieht in manchen Szenen ganz ohne ihr Einverständnis. Dabei kommt die realistische Möglichkeit, miteinander über Gefühle zu reden, teilweise etwas zu kurz. Auch im Alltag ist es manchmal nicht so leicht, Gefühle in Worte zu fassen, daher lassen viele Menschen es lieber sein. Es könnte helfen, genau das zu üben. Es könnte aber auch sein, dass jemand Zeit braucht, um sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Glücklicherweise darf man sich in wichtigen Szenen von True Colors auch dagegen entscheiden, in die Gefühlswelten anderer einzugreifen – und den Figuren eine eigene Auseinandersetzung mit ihren Gefühlen zugestehen.

Ales musiziert, um Gefühle zu verarbeiten | Bild: Life is Strange: True Colors, Square-Enix / Deck Nine
Alex musiziert, um Gefühle zu verarbeiten | Bild: Life is Strange: True Colors, Square-Enix / Deck Nine
Raum für Gefühle

Games pflegen eine lange Tradition von Erzählungen über Hindernisse, Antagonismus und Wettbewerb. Beispielsweise dominiert auch heute noch das Shooter-Genre mit großem Abstand die Spielelandschaft. Doch ein Stück weit haben sich Games schon von ihrer eigenen Vergangenheit emanzipiert. Technische Neuerungen werden nicht nur dazu eingesetzt, die Anzahl gleichzeitig darstellbarer Feinde auf dem Bildschirm zu erhöhen. Sondern auch, um detaillierte Figuren mit überzeugenden Gefühlsregungen zu erschaffen und glaubwürdige Geschichten zu erzählen. Nicht nur im Indie-Bereich, sondern auch bei AAA-Produktion werden die Studios mutiger, wie Life is Strange jetzt wieder zeigt.

Auf der einen Seite sollte es immer Raum dafür geben, kompetitiv zu spielen, denn Wettbewerb macht vielen Menschen Freude. Auf der anderen Seite darf es aber auch Raum für Erfahrungen geben, die nicht an solche Kategorien – Gewinnen und Verlieren – geknüpft sind. In Spielen wie Life is Strange können wir uns in Figuren einfühlen, in ihren Schuhen laufen und dabei völlig neue Dinge erleben. Auf diese Weise können Games vielleicht sogar dazu beitragen, Vorurteile abzubauen.

Hinzu kommt eine seltene Entschleunigung in der Erzählung von True Colors, die einen starken Kontrast zu der Getriebenheit vieler Actionspiele bietet. Es gibt immer wieder Spielszenen, in denen man sich hinsetzen und nichts tun kann – und das solange man will! Hier kann man einfach auf die Umgebung, sich selbst und den Augenblick konzentrieren. In der Psychologie nennt man das Achtsamkeit. Solche Achtsamkeitsübungen werden auch in der Therapie eingesetzt und können bei verschiedenen psychischen Belastungen helfen, zum Beispiel bei der Stressbewältigung. Auch wenn sich True Colors wohl nicht als therapeutisches Instrument eignet, kann es uns zumindest Anregungen geben, auch außerhalb des Spiels achtsam zu sein.

Ein Moment der Ruhe in Life is Strange: True Colors | Bild: Life is Strange: True Colors, Square-Enix / Deck Nine
Ein Moment der Ruhe | Bild: Life is Strange: True Colors, Square-Enix / Deck Nine
Fazit

Life is Strange: True Colors macht Emotionen und Empathie zum Hauptthema, das sieht man nicht oft in Games. Emotional zu sein ist gilt gemeinhin als irrational und als minderwertige des Form des Umgangs. Man solle lieber sachlich und nüchtern sein, so der Tenor. Das kann jedoch bewirken, dass wir Gefühlen nicht den Platz einräumen, den sie brauchen, weil wir sie nicht haben wollen oder weil wir glauben, wir dürfen sie nicht haben. Da ist es wirklich erfrischend, dass wir in Life is Strange Vorbilder sehen, die Emotionen Raum geben.

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4 comments on “Emotion und Empathie in Life is Strange: True Colors

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Comments

  1. Für mich wird der erste Teil von Life Is Strange für immer der beliebteste und beste bleiben. Es sitzt zu tief in meinem Herzen. Ich möchte die nächsten Teile ausprobieren, aber ich erwarte nicht, dass sie so stark sind wie sie sind. Vielen Dank für den Artikel.

    • Danke für deinen Kommentar! Der erste Teil hat mich auch besonders bewegt. Aber True Colors hat mir ziemlich gut gefallen und ich kann es auf jeden Fall empfehlen!

  2. Alexa Nov 1, 2021

    Starker Text! Finde nur diese Stelle etwas problematisch: „Empathie ist eine Superkraft, die wie alle haben. Menschen sind mit dieser Fähigkeit von Geburt an ausgestattet.“ Babys mögen zwar die Emotionen anderer wahrnehmen, können sie aber nicht zwangsläufig zuordnen/nachempfinden. Erst im Vorschulalter entwickeln Kinder Empathie. Sie müssen erst lernen, ihre eigenen Gefühle und die von anderen einzuordnen und sich in die Lage der anderen hineinzuversetzen. Deshalb wird in der Elementarpädagogik sehr viel über Gefühle gesprochen und es werden Projekte zum Thema Emotionen gemacht. Menschen, die nicht wissen, dass Kinder Empathie erst erlernen müssen, denken oft, dass diese zu Ich-bezogen sind. Dabei ist das eine völlig normale Entwicklung.

    Mein Senf dazu. 😉 Finde das Thema Emotionen sehr spannend und würde gerne mehr darüber lesen/hören. LG!

    • Hey Alexa! Da habe ich ungünstig formuliert. Gemeint ist natürlich: die Befähigung zu Empathie ist allen Menschen angeboren bzw. sie ist angeboren, auch wenn sie im weiteren Verlauf des Lebens noch ausdifferenziert werden muss. Ich ergänze einen Halbsatz im Text, danke für den Hinweis!