Warum spielen wir dieselben Spiele immer wieder? Und wie verändert sich das Spielen durch die Wiederholung? Die Reihe „Der Wert des Wiederspielens“ widmet sich persönlichen Erfahrungen mit dem Wiederspielen. Pascal Wagner von Language At Play gibt in diesem Beitrag Einblick in seine kathartischen Erfahrungen mit dem New Game Plus.

Ich fange ein Spiel mittlerweile selten noch einmal an. Das hängt damit zusammen, dass ich Spiele gerne komplettiere, auch wenn das im ersten Moment gegensätzlich erscheint.

Ich erledige in einem Spieldurchlauf grundsätzlich alles, was geht. Jede Nebenquest, jedes Sammelobjekt – sofern es einen Sinn hat und nicht nur einen Zähler nach oben treibt – nehme ich mit, bevor ich das Spiel beende. Das bedeutet, dass ich meist sehr zufrieden aus einem Spieldurchgang komme, und kein Bedürfnis danach habe, etwas erneut zu spielen; ich habe schließlich schon alles gesehen. Wenn das bedeutet, dass ich kleinere Entscheidungen nicht noch einmal anders treffen oder die “böse” statt der “guten” Route nicht spielen darf, dann sei es drum. Zu viel Wiederholung ist mir eine solche kleine Neuerung nicht wert.

Und dennoch gibt es eine Art der Wiederholung, die mich regelmäßig begeistern kann. Ich spreche vom New Game Plus, bei dem meine bis zum Bersten gelevelte und ausgerüstete Figur ohne Reset das Spiel von vorne beginnen darf – oft gegen stärkere Gegner und mit neu platzierten Gegenständen in der Spielwelt. Manche Spiele animieren mich auf eine Weise dazu, die ganz konkret mein Completionist-Gen anspricht und somit das Gefühl, fertig mit dem Spiel zu sein, aushebelt: Wenn sich bestimmte Dinge nur in einem zweiten Durchlauf finden, bestimmte Queststränge nur in der Wiederholung lösen lassen, dann muss ich sie haben und sehen. 

"This cannot continue." - "But it will, three more times." | Bild: Platinum Games / Square Enix [Nier: Automata]
„This cannot continue.“ – „But it will, three more times.“ | Bild: Platinum Games / Square Enix [Nier: Automata]
Die perfekte Katharsis

Nicht nur dieser niedere Trieb spricht mich am New Game Plus an. Die ersten zwanzig Minuten im NG+ sind oft die schönsten, entspannendsten, die ich in einem Spiel je zubringe. Darin vermischen sich viele positive Erfahrungen zu einer für mich idealen Spielerfahrung. Der Adrenalinschub des gerade erst besiegten Endbosses verweilt noch restweise in mir, während das Serotonin-High des abgeschlossenen Spiels, gepusht durch die aufgeblitzte Trophäe meiner PlayStation, besonders präsent ist.

Den stärksten Widersacher des Spiels besiegt und die Geschichte verstanden, alle Fragen ausgeräumt zu haben, ist für mich die perfekte Katharsis nach der Anspannung eines Spiels, das mich tage-, vielleicht wochenlang, im Griff hatte. Ein wohliges Gefühl des Begreifens, gepaart mit einem Drang nach mehr, der mich in Wikis treibt, um mich noch stärker mit der Hintergrundgeschichte zu beschäftigen, zieht mich auch zurück ins Startgebiet. Die Gegner dort sind noch auf unerfahrene Spielerinnen und Spieler ausgelegt und stellen selbst mit ihren erhöhten Kampfwerten keine Herausforderung dar. 

Das Ideal dieser zwanzigminütigen Verzückung wird für mich immer Things Betwixt und der Übergang nach Majula bleiben: das Startgebiet von Dark Souls II, das so verzweigt, so unlogisch und so voller erst viel später lösbarer Puzzles ist, dass ich bis heute nicht das Gefühl habe, es komplett verstanden zu haben. Mit all meinem Wissen, meinen Waffen und Schlüsseln in diesen leibhaftig gewordenen Rätselwürfel zurückzukehren, macht mich glücklich. Vieles davon könnte ich wohl auch in einem ‘normalen’ neuen Spieldurchlauf bekommen, bei dem ich nur mein eigenes Wissen, aber keine Gegenstände oder Skills mitnehme. Ein New Game Plus für den Kopf, sozusagen. Aber ich bekäme eben nicht alles.

Manche der mysteriösen versteinerten Gegner werden wohl erst im NG+ befreit. Dieser im Startgebiet ist dafür ein guter Kandidat. | Bild: From Software / Bandai Namco [Dark Souls II]
Manche der mysteriösen versteinerten Gegner werden wohl erst im NG+ befreit. Dieser im Startgebiet ist dafür ein guter Kandidat. | Bild: From Software / Bandai Namco [Dark Souls II]
Neue Spielmomente

Mit einem White Branch in Things Betwixt gleich zu Beginn einen versteinerten Gegner zu befreien und so einen neuen Weg zu öffnen, oder mit einer Waffe ins Tutorial von Bloodborne zu starten und direkt einen Werwolf töten zu können, der mich beim ersten Mal im Faustkampf niedergemacht hat, gehört zur vollständigen Eroberung einer Spielwelt einfach dazu. Oft ist die Ingame-Belohnung dafür kaum der Rede wert: Ein paar zusätzliche Heilgegenstände fürs Startgebiet, oder eine einzige neue Dialogzeile, die mich lobt oder verlacht. Aber weiße Flecken auf der mentalen Karte zu füllen, so klein sie auch sein mögen, ist so befriedigend wie wenig andere abschließende Handlungen in einem Spiel.

Besonders wertvoll fühlt sich dieser Prozess an, wenn er im normalen New Game überhaupt nicht funktioniert hätte: Wenn die Spielmomente, die ich neu erfahre, überhaupt erst im New Game Plus existieren. Gelegentlich erreichen Spiele das über die schiere Menge ihrer Inhalte, die ich unmöglich in einem Spieldurchlauf sehen kann. Erst, wenn ich in Persona 4 und Persona 5 die sozialen Werte meiner Figur maximiere und diese ins New Game Plus übertrage, habe ich genug Zeit, wirklich alle anderen Aktivitäten auszuprobieren. Wo zuvor der Balance-Akt im Mittelpunkt stand, mein Sozialleben mit dem Training meiner Charakterwerte in Einklang zu bringen, ist es nun realistisch machbar, mich mit allen Figuren im Spiel anzufreunden. Wo ich zuvor auf eine Klausur lernen musste, kann ich nun den Nachmittag in einem Palast damit verbringen, Gegner zu besiegen und Personas zu fusionieren, um die letzten Lücken meines Kompendiums zu schließen. Ein Überangebot an Inhalten kann so zum Anreiz werden, Spiele noch einmal von einer ganz anderen Seite zu erleben.

Wenige Spiele greifen die Wiederholung eines Spiels mit derselben Figur narrativ auf. Einige reagieren immerhin mit kurzen, anerkennenden Ausrufen, wenn ich mit den Fähigkeiten meiner hochgelevelten Figur einen Spielabschnitt überspringe oder einen Geheimgang finde, den ich der Geschichte nach noch gar nicht kennen sollte. Ganz seltene Beispiele wie NieR und Undertale lassen sich überhaupt erst in einem oder mehreren New Game Plus vollständig erfahren. Sie sind darauf ausgelegt, direkt nach Abschluss eines Durchgangs noch einmal gestartet zu werden, und bauen ihre Erzählweise darauf auf. In solchen Momenten glänzt ein New Game Plus narrativ, so wie es in Dark Souls und Co. ludisch glänzt.

Mit gefülltem Statuswerte-Stern entfallen Lernen, Bücherlesen und Filmeschauen aus dem Zeitplan. Übrig bleibt mehr Zeit für Freundschaften. | Bild: P-Studio / Sega [Persona 5 Royal]
Mit gefülltem Statuswerte-Stern entfallen Lernen, Bücherlesen und Filmeschauen aus dem Zeitplan. Übrig bleibt mehr Zeit für Freundschaften. | Bild: P-Studio / Sega [Persona 5 Royal]
Ein neuer Blickwinkel auf alte Schätze

Das New Game Plus erzeugt auf diese Weisen ein ganz neues Gefühl der Geborgenheit und des Verständnisses – und damit meine ich kein Machtgefühl, denn in der Regel steigen die Fähigkeiten der Gegner in etwa im selben Maße wie die meiner Spielfigur. Nein, das New Game Plus eröffnet einen ganz neuen Blick auf die Geschichte und die Lore einer Spielwelt. Was vorher verworren war, kann ich plötzlich verstehen. Da ich mit der frischen Erinnerung eines ganzen Spieldurchlaufs erneut in die Geschichte einsteige, erkenne ich Flash Forwards als Anspielungen auf spätere Ereignisse und kann sie kontextualisieren. 

Obskure Lore-Anspielungen, wie sie sich in den Dark-Souls-Spielen beispielsweise zuhauf in Gegenstandsbeschreibungen finden lassen, ergeben plötzlich Sinn, wenn ich im ersten Gebiet schon eine Münze finde, die auf einen Gott anspielt, von dem ich erst in der Mitte des Spiels erfahre. Klar, ich habe die Münze auch im ersten Spieldurchlauf gefunden, und ich hätte jederzeit ins Menü schauen und mir den Text noch einmal durchlesen können, auch vor dem New Game Plus. Aber nicht immer tue ich das. Und die entsprechenden Gegenstände und Hinweise erneut zu finden und zu lesen, und zwar in der Reihenfolge, in der das Spiel sie mir nahelegt, bringt mich eben dazu, in dieser Reihenfolge auch mein Verstehen aufzubauen.

Figuren offenbaren mir mit achtlos hingeworfenen Nebensätzen ihre Zugehörigkeit zu einer Ideologie, deren Zentrum der Macht ich im letzten Spieldurchgang bereits zerschlagen habe. Den Verräter, ebenfalls fester Bestandteil jedes Dark Souls, stoße ich bereits beim ersten Zusammentreffen von der nächsten Klippe, weil ich weiß, dass er sich sonst durch meine Basis mordet – eine Erfahrung, die ich erst einmal machen musste und der ich nun, mit Wissen ausgestattet, aus dem Weg gehen kann.

Der beste Teil des Spiels

Spiele ich ein New Game Plus, bewege ich mich konstant auf einer höheren Ebene des Begreifens als im ersten Durchlauf, die ich mit gelegentlichen Erkenntnismomenten noch weiter erhöhen kann, wenn ich etwas bemerke, das mir beim ersten Mal überhaupt nicht auffallen konnte. Da ich mich mit dem mir vertrauten, gut ausgerüsteten Avatar besonders sicher durch die Spielwelt bewege, stoße ich immer wieder auf Textschnipsel, die mir zuvor nicht aufgefallen sind, weil ich zu sehr auf einen schweren Kampf oder eine fordernde Geschicklichkeitseinlage konzentriert war. Ich sehe mehr von der Spielwelt, mache sie mir stärker zu eigen als mit einer frischen Figur. Es ist die erweiterte, dauerhaft erfahrbare Katharsis des Spielabschlusses. Der beste Teil des Spiels, köstlich in die Länge gezogen.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *