Digitale Spiele bringen weit mehr Hürden ins Feld als andere Medien, findet unsere Gastautorin Aurelia Brandenburg. Man braucht nicht nur spezielle Kenntnisse über Spiele (Gaming Literacy), sondern muss viel Geld und Zeit investieren, um den Bildungsstand zu halten. Das führt auch zu Gatekeeping.
Wer jemals ein noch so kleines Spiel designt oder auch nur eine gemütliche Pen-and-Paper-Kampagne geleitet hat, weiß: Der schwierigste Teil ist oft nicht, Spieler*innen eine dramatische Hintergrundgeschichte vor die Nase zu setzen, sondern sie möglichst subtil dazu zu bewegen, einfach nur diese eine Sache zu tun, die sie in der Handlung oder einem Level weiterbringt. Im Grunde also einfach ein kommunikatives Dilemma: Wie teile ich Spieler*innen mit, was sie tun müssen, ohne die Spannung wegzunehmen oder sie sogar zu nerven? Und auch wenn digitale Spiele dafür ganz unterschiedliche Wege kennen, läuft einiges dann doch wieder auf eine Sache hinaus: Intuition. Und das ist nicht ganz unproblematisch.
Denn sehe ich mich nur in meinem eigenen Freundeskreis um und denke an die Leute, die eigentlich nichts mit Spielen am Hut haben, aber im Laufe der letzten Jahre doch mal das eine oder andere Spiel – meistens auf meine Empfehlung hin – angefasst haben, dann fallen mir Unmengen an Situationen ein, in denen genau dieses Verlassen auf Intuition eine Barriere nach der anderen aufgebaut hat.
Eine Freundin ist von der Reitmechanik in Skyrim so verwirrt worden, dass sie drauf und dran war, nur zu Fuß durch die Spielwelt zu marschieren. Eine andere ist an einer Hauptmission in Dragon Age: Inquisition ewig gescheitert, weil ihr nicht bewusst war, dass sie ihre Ausrüstung gegen bessere austauschen kann. Wieder eine andere hat schon im Tutorial von Deponia eine ganze Weile gebraucht, um zu verstehen, was sie tun soll, weil ihr das Genre Point & Click vollkommen fremd war. Alle drei sind junge, kluge und gebildete Menschen, aber allen Dreien fehlte eine einzige scheinbar banale Information, um zu wissen, wie sie hier mit einem Spiel umzugehen hatten.
Intuition?
Denn die Basis dieser Intuition kommt natürlich nicht aus dem Nichts, sondern beruht auf der Kenntnis anderer Spiele und ihrer Mechaniken. Habe ich Minecraft gespielt, finde ich mich vermutlich auch sehr schnell in No Man’s Sky oder den meisten anderen Sandbox-Spielen zurecht. Kenne ich The Witcher 3, verstehe ich vermutlich auch Assassin’s Creed: Origins. Und wenn ich einmal raus habe, dass rote Fässer einfach explodieren müssen, dann komme ich vermutlich auch im nächsten oder übernächsten Spiel wieder darauf. Wenn ich aber nie oder vielleicht auch nur selten moderne Spiele anrühre, dann tun sich hier einige Hürden auf: Woher weiß ich denn, dass ich in einem RPG vermutlich die Augen nach besserer Ausrüstung offen halten sollte? Woher weiß ich denn, wie ein Fähigkeitenbaum funktioniert? Oder mit welcher Taste ich in der Regel einen Angriff ausführe? In welche Richtung ich laufen sollte, wenn ich gerade mal nicht weiterkomme?
Die naheliegende Antwort ist natürlich, dass diese Dinge irgendwie auf der Hand liegen. Das Zahnradsymbol kenne ich auch von vielen anderen Programmen. Die Richtung, in der es weitergeht, ist wahrscheinlich irgendwie immer nach vorne und Tastenbelegungen werden meistens wenigstens kurz einmal eingeblendet und sich dann irgendwo im Hauptmenü in den Einstellungen auch nochmal vergraben. Aber schon um nur darauf zu kommen, dass ich diese Information im Menü noch einmal finde, setzt einige Kenntnisse voraus. Aus anderen Spielen, Programmen oder Medien.
Wer spielen will, muss lernen
Und so banal diese Beispiele vielleicht klingen: Die größten Hürden für Spieler*innen, die nie Videospiele spielen, aber eigentlich Interesse am Medium hätten, sind genau das, banal. Trotzdem sind es Hürden.
Spielmechaniken, Genrekonventionen wie verschiedene Klassen, Ingame-Logik, Eingabegeräte und -knöpfe – Die Liste der Dinge, die moderne Spiele komplex und de facto unzugänglich für neue Spieler*innen machen, ist lang. Selbst User-Interfaces können eine Herausforderung sein. Nicht jedes einzelne, etwas unzugängliche Element schließt jede und jeden direkt aus, aber die Summe dieser Teile hat definitiv das Potential dazu.
Videospiele zu verstehen und erfolgreich zu spielen ist eine Fähigkeit, d.h. all das, was man mitbringen muss, um eine bestimmte Leistung zu erbringen. Dazu zählen nicht nur kognitive Grundvoraussetzungen wie Reaktionsfähigkeit, sondern auch die spezielle Befähigung, Spiele zu lesen. Man muss insbesondere daran gewöhnt sein, sich in unterschiedlichen virtuellen Räumen – egal ob 2D oder 3D – durch bestimmte Eingabemethoden zu bewegen. Und man benötigt Kenntnisse über Konventionen. Wissen darüber, wie ein Spiel mit mir als Spielerin kommuniziert. Und ich mit ihm. Nichts davon ist von außen ganz natürlich ersichtlich, sondern setzt Unmengen an Kenntnissen und Fähigkeiten voraus. Die Summe davon nennt man auch Gaming Literacy, d.h. die Fähigkeit, Spiele zu lesen und zu verstehen.
Moderne Spiele sind ein Haifischbecken. Sie erfordern ein hohes Maß an motorischen Fähigkeiten bei der Steuerung und setzen Kenntnisse über die Bedienung und andere Konventionen einfach voraus. Wer spielen will, muss mutig vom Beckenrand springen und sich das Schwimmen oft selbst beibringen.
Wer spielen will, muss investieren
Es kommt erschwerend hinzu, dass die Unzugänglichkeit von Spielen für Anfänger*innen nicht auf der unmittelbaren Gameplay-Ebene endet. Hardware wie Spiele selbst sind teuer, moderne AAA-Titel werden immer größer und fressen mehr Zeit als ein erwachsener Mensch mit einem Leben jenseits einer Konsole wirklich aufbringen kann. Wer mal ein paar Jahre nicht besonders viel spielt, findet sich danach womöglich in einer Welt wieder, deren Spiele ganz anders funktionieren, und muss die eigene Gaming Literacy vielleicht neu erlernen. Spiele erfolgreich zu rezipieren ist also auch eine Frage von Ressourcen ihrer Spielenden. Ein Buch zu lesen und so zum Beispiel an einer aktuellen Diskussion um einen Roman teilzunehmen, ist eine Frage von einer im Vergleich zu Spielen kleinen Summe und ein paar Stunden oder Tagen Zeit. Einen Titel wie Assassin’s Creed: Odysee zu rezipieren, ist eine Frage von mehreren hundert Euro für eine Konsole oder einen leistungsstarken PC samt Zubehör und hundert Stunden Zeit. Welcher erwachsene Person hat schon beides so konstant, dass sie dann auch noch mit beidem konstant mithalten kann, um über die Konventionen der Spiele selbst auf dem Laufenden zu bleiben und ihre mühsam erarbeitete Gaming Literacy nicht wieder zu verlieren?
Man muss nicht nur lernen, Spiele zu lesen, sondern auch viel Zeit und Geld investieren, um auf dem Laufenden zu bleiben. Wer rastet, der rostet. Kaum ein anderes Medium fordert so viele Ressourcen ab.
Gatekeeping
All das ist sicher nicht vollends lösbar, allerdings lässt sich nicht ganz ausblenden, dass Spiele mehr und mehr Literacy, Zeit und Geld von ihren Rezipient*innen verlangen. Und wenn wir darüber streiten, ob oder wie es besonders leichte Modi oder Skip-Bossfight-Buttons für bestimmte Spiele geben sollte, dann streiten wir nicht nur über Schwierigkeitsgrade. Dann streiten wir über Gatekeeping. Das heißt darüber, wer Zugang zu welchen Titeln haben darf und wer nicht. “Schwierigkeit” oder “Hürden” sind relative und subjektive Werte, die ganz unterschiedlich zum Ausdruck kommen können. Wenn ein Anfänger schon vollends damit beschäftigt ist, sich nur mit dem Crafting-System eines Spiels auseinander zu setzen, dann ist “schwer” etwas komplett anderes als bei einer erfahrenen Spielerin, der diese Art Systeme längst bekannt sind und die davon dementsprechend nicht mehr herausgefordert wird.
Und selbst dann streifen wir gerade mal die Spitze des Eisberges: Was ist mit Menschen mit Behinderung? Was mit älteren Menschen? Berufstätigen Menschen mit mehr Freizeitbeschäftigungen als Videospielen? Alleinerziehenden? Insgesamt Leuten, die nicht die Zeit oder das Geld haben, viel Aufwand darin zu investieren, eine Gaming Literacy langsam aufzubauen und dann ständig aufrecht zu erhalten? All diesen Leuten und mehr werden durch scheinbar banale Hürden der Zugang stark erschwert, was sie im Ergebnis auch ein Stück weit aus dem Medium ausschließt. Nicht bei jedem Titel, aber bei einigen, und das genügt auch schon als Form des Gatekeepings.
Hürden abbauen
Spiele, gerade im AAA-Bereich, sind grundsätzlich ein relativ schwer zugängliches Medium. Sie haben eine vergleichsweise hohe Einstiegshürde und fordern jede Menge Ressourcen ab, um am Ball zu bleiben.
Das lässt sich nicht vollkommen verhindern, weil auch Faktoren wie Größe und Komplexität eines Titels eine Rolle spielen, aber vielleicht lassen sich einige Hürden abbauen, wenn man sich die Mühe macht, beispielsweise verschiedene Tutorialvarianten anzubieten und Anfänger*innen einfach ein bisschen mehr zu erklären als allen anderen. Oder indem man, wie bei Shadow of the Tomb Raider, etwas detailliertere Einstellungen zum Schwierigkeitsgrad anbietet. Oder einen reinen Story Mode. Oder einen Safe Mode wie bei SOMA. Das ersetzt keine anderen Schwierigkeitsgrade oder ein Spielerlebnis ohne Tutorial, aber es reicht allen anderen die Hand und gibt mehr Menschen die Möglichkeit, ein Spiel zu rezipieren und zu genießen.
Denn was schwer oder eine Hürde ist, ist objektiv nicht messbar. Wer die eigene Spielerschaft nicht künstlich homogen halten möchte, muss sich auch damit auseinandersetzen, was Hürden für unterschiedliche Spieler*innen bedeuten.
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